Karen Schneeweiß-Voigt / Katharina Burges
"Hilde Domin - Ich ging heim in das Wort"
Die Schauspielerin Karen Schneeweiß-Voigt und die Musikerin Katharina Burges widmen sich mit ihrem aktuellen Programm „Hilde Domin - Ich ging heim in das Wort“ einer der erfolgreichsten deutschen Nachkriegsdichterinnen und veröffentlichen zu ihrem 16. Todestag am 22. Februar ein gleichnamiges Hörbuch mit Schriften der gesellschaftlich spät anerkannten Lyrikerin, Philosophin und Humanistin. Nach ihrem Programm „Von der Liebe. Und dem Krieg. Frauen erinnern.“ ist es die zweite Zusammenarbeit der beiden Künstlerinnen, in der sich das sorgsam ausgewählte, gesprochene Wort mit instrumental minimalistisch, gesanglich jedoch mitunter weit ausgelegten Musikstücken abwechseln. Nachdem das Programm im Sommer 2021 bereits erfolgreich aufgeführt worden ist, folgt nun ein Studio-Album als CD und auf den digitalen Portalen.
Die Initiative zum Projekt ging dabei von Karen Schneeweiß-Voigt aus, die auf der Suche nach einem Autor bzw. einer Autorin zum Thema „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ auch auf Hilde Domin stieß und sich sowohl ihrem Werk, als auch ihrer Person nicht mehr entziehen konnte: „Die Gedichte und auch ihre autobiographischen Texte haben mich sofort angesprochen und etwas in mir angerührt. Sie sprechen neben den Erfahrungen einer aus Deutschland vertriebenen Jüdin und ihrer Rückkehr von einer Suche und tiefen Sehnsucht nach Heimat, Verwurzelung und Zugehörigkeit“, erläutert die Schauspielerin und Leiterin des Theaters „Weites Feld“ im brandenburgischen Netzen (bei Kloster Lehnin) ihre Motivation und fügt hinzu: „Der Blick als Fremde und aus der Fremde ist geschärft und ihre Sprache ist ganz klar und poetisch“. Der feinsensorische Blick auf uns Menschen und die Welt hatte viele Jahre Zeit, entsprechend geschärft zu werden, denn bevor die als Kind großbürgerlicher Eltern am 27.7.1909 in Köln als Hilde Löwenstein geborene und später in Heidelberg, Köln und Berlin Jura, Philosophie und politische Wissenschaften studierende Frau mit über 50 Jahren zu einer anerkannten Poetin geworden ist, verbrachte sie viel Zeit - ganze 22 Jahre - in der Fremde: Während ihres Studiums in Heidelberg hatte sie im April 1931 den jüdischen Kaufmannssohn und Archäologiestudenten Erwin Walter Palm kennengelernt, dem sie im Oktober 1932 zum Auslandsstudium nach Italien folgte, welches nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zum Exil wurde. An den Universitäten von Rom und Florenz schloss sie 1935 ihr Studium ab, 1936 heiratete sie ihren Studienfreund, gab als Hilde Palm fortan Sprachunterricht und übersetzte die wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes, bevor sie - nach der Einführung der Rassengesetze in Italien - im Frühjahr 1939 gemeinsam über Paris nach Großbritannien und im Sommer 1940 dann über Kanada in die Dominikanische Republik fliehen mussten. Dort unterrichtete sie abermals Deutsch und übersetzte die Arbeiten ihres Mannes, während dieser eine außerplanmäßige Professur für „besondere Aufgaben“ erhielt und sich mit der Position des Kurators der Kolonialkunst als Spezialist für ibero-amerikanische Kunst- und Kulturgeschichte etablierte.
Unter dem Einfluss ihrer Flucht und einer problembehafteten Beziehung mit ihrem Mann, die sie zunehmend seelisch vereinsamen ließ, begann sie in der Karibik mit dem Aufbau einer eigenen künstlerischen Existenz - und dem Schreiben. Es sei die Zeit ihrer „zweiten Geburt“ gewesen, wie sie selbst diese Jahre rückblickend nannte, in der sie wie „ein Sterbender, der gegen das Sterben anschrieb. Und so lange ich schrieb, lebte ich. Das war ein Geschenk … eine Gnade. Es war eine Erlösung.“ Auch wenn ihre frühen Gedichte an diesem Tiefpunkt ihres Lebens entstanden sind, klagen sie nicht, sondern wenden sich, wie ihre späteren Texte, gegen all das Negative und beinhalten ein „Dennoch“: „Ich habe den Glauben an die Menschen nie verloren, und das ist etwas ganz einzigartiges, dass ich den Glauben an die Menschen behalten konnte, trotz all der schrecklichen Sachen. Das ist ein Glück“, wird die Autorin später zitiert werden. Diese Kraft nahm die Künstlerin aus einem Urvertrauen in die Welt, das ihr von den Eltern mitgegeben wurde, einem Vater, der als Anwalt mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ausgestattet war, und einer temperamentvollen Sängerin als Mutter. 1951, im Alter von 42, schrieb Hilde Palm ihr erstes Gedicht - zermürbt vom Leben im Exil in einer vereinsamenden Beziehung, dem Trauma der Vertreibung und unter dem Eindruck des Todes ihrer Mutter. 1954 gab sie sich den Namen Domin, nach dem Ort, an dem sie zur Dichterin wurde (Santo Domingo). Die Entscheidung, ihre Texte auf Deutsch zu verfassen, nannte sie eine Rettung und »Alternative zum Selbstmord«. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1954 veröffentlichte sie mehrere Gedichtbände, autobiographische Texte, den Roman „Das zweite Paradies“ sowie Essays poetologischen, soziologischen und literaturtheoretischen Inhalts. Ihre Gedichte wurden dabei in mehr als 26 Sprachen übersetzt, sie selbst mit vielen (Literatur-) Preisen und dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Die Stadt Heidelberg - ihre Heimatstadt nach ihrer Rückkehr, in der sie viele Unterstützer fand - ernannte Hilde Domin anlässlich ihres 95. Geburtstags im Jahr 2004 zur Ehrenbürgerin. Ein Jahr später erhielt die Künstlerin die höchste Auszeichnung der Dominikanischen Republik, den „Orden del Mérito de Duarte, Sánchez y Mella, en el grado de Commendador“.
Hilde Domin hat sich Zeit ihres Lebens für Frieden und Versöhnung eingesetzt. Ihr yrisches Werk beinhaltet positive humanistische Werte wie Liebe, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht. Sie wurde als Überlebende menschengemachter Grausamkeit nie müde, menschliche Botschaften in Interviews, Lesungen und während ihres bis ins hohe Alter fortwährenden Schreibens zu vertreten und sich für sie einzusetzen. Dabei bezog sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 auch immer wieder zu aktuellen politischen Themen Stellung und ließ diese mitunter in ihre Lyrik einfließen. Das auch auf dem Album von Karen Schneeweiß-Voigt und Katharina Burges enthaltene, berühmte Gedicht „Abel steh auf“ hatte sie beispielsweise um einen Vers erweitert, als über den Nato-Doppelbeschluss und die Wiederaufrüstung heftig in Deutschland diskutiert wurde. Ihr Gedicht „Schiff ohne Hafen“ thematisiert die Problematik der Rettung der Vietnam-Flüchtlinge im Jahr 1978, welches auch heute noch mit den menschenüberfüllten Booten im Mittelmeer erschreckende Aktualität besitzt. Hilde Domin trat den Diskriminierungen, die sie als Jüdin, aber auch als Frau erlebte, entgegen und sprach von der Schwierigkeit, den drei Menschengruppen „Deutscher“, „Autorin“ und „Jude“ anzugehören. Ihr Blick auf die Welt und ihr Schreiben war immer ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit - auf allen Seiten. Und es war das Lösen bzw. Erträglicher-machen von Lasten: „Gedichte schreiben ist eine Befreiung. Zuerst befreit sich der Autor und dann der Leser. Ich habe mich in das Wort gerettet. Ich sagte, ich stand auf und ging heim in das Wort“. Karen Schneeweiß-Voigt und Katharina Burges haben diesen letzten Satz im Titel aufgegriffen und die Stücke für das Programm und das Album so sorgsam ausgewählt, dass „die Texte in Dialog mit der Musik zu einem ganz eigenen Leben erweckt werden“, wie Karen Schneeweiß-Voigt es beschreibt. Das zeigt sich durch die Auswahl der verwendeten Lyriken und Schriften und jener der Musik als sehr gelungen. Schon das einleitende „Ständchen“ von Franz Schubert greift die Melancholie, aber auch die darin liegende Hoffnung jener Reise vorweg, in der sich Hilde Domin Zeit ihres Lebens trotz oder auch wegen ihrer Traumata immer der Menschlichkeit zugewandt, befand. Die Entscheidung für die verwendeten musikalischen Stücke erwies sich für Katharina Burges dieses Mal als nicht einfach: „Im Vorfeld erschien es mir relativ kompliziert, Musik auszuwählen, die passend für eine Hilde-Domin-Lesung scheint. Aus verschiedenen Gründen. Zum einen laden die Texte/ Gedichte weniger ein, untermalende Musik einzuarbeiten, zum anderen stehen sie alleingültig im Raum, ohne einer weiteren Präzisierung oder musikalischen Ausstattung zu bedürfen.“ Dennoch traf die Pianistin, Komponistin und Opernsängerin eine angemessene Auswahl:
„Meine Entscheidung, die auf mich zart, gläsern und bisweilen ätherisch wirkende Domin musikalisch eher zu dokumentieren als zu garnieren, schien mir unerlässlich. Dokumentation bedeutet auch immer, eine gewisse Form der Neutralität zu wahren; welche Musik ist neutral bzw. lässt mehr Interpretationsspielraum zu als andere? Die Klassik in ihrer Reinkultur beansprucht diese Haltung deutlicher als andere Musikgenres. Also griff ich größtenteils in jene Palette, die den Texten der Domin in ihrer Alleingültigkeit Rechnung tragen“. Um sich einen eigenen Interpretationsspielraum zu schaffen und ihrer Künstlerseele getreu zu bleiben, griff Katharina Burges jedoch an einigen Stellen behutsam in die originalen klassischen Werke ein und verließ damit die konventionellen Bahnen: „Die Minimalistik, die bei Chopin durchaus zu finden ist, lässt man den virtuosen Klaviersatz mit all seiner Enharmonik und Chromatik einmal beiseite und beschränkt sich auf das Wesentliche, kommt der feingliedrigen Domin vergleichsweise nahe. Selbst ein hochromatischer Antonin Dvorak, dessen „Als die alte Mutter“ doch recht bauschig-füllig daherkommt, kann, minimalisiert, einen subtilen Charakter erhalten.“ Dem Umstand gerecht werdend, dass Domin Jüdin war und in ihren biographischen Texten auch von jenem bitteren Erbe handeln, ließ die Künstlerin obendrein auch die hierzulande sehr bekannten jüdischen Weisen „Shalom chaverim“ und „Hine ma tov“ auswählen. Das einzige Musikstück, das auf dem Album einen karikierenden Einsatz erhält, ist das choralähnliche Lied „Ich grüße dich am Kreuzesstamm“ von Matthäus Greiter und Valentin Ernst Löscher: „Die (Schein-)heiligkeit der im Domin´schen Fall christlichen Religion (andere Religionen sind davon nicht befreit, tun nur hier nichts zur Sache), kann mehr als deutlich mit diesem Lied dargestellt werden“, so Katharina Burges' Worte zu menschlicher Doppelmoral. Das auf dem Album enthaltene Stück „Graue Zeiten“, welches den nicht enden wollenden Schmerz über einen in diesem Lande von menschlichem Geist und seiner Hand ermöglichten, automatisierten, millionenfachen Todes und tausendfacher Vertreibung äußert und in dem Karen Schneeweiß-Voigts emotionaler Vortrag und eine freie Piano-Improvisation von Katharina Burges in Symbiose treten, kann als ins Mark treffender Höhepunkt der Produktion bezeichnet werden.
Am 22. Februar vor 16 Jahren starb Hilde Domin 96-jährig in Heidelberg. Mit dem Album „Hilde Domin - Ich ging heim in das Wort“ halten Karen Schneeweiß-Voigt und Katharina Burges die Künstlerin in einer angemessenen und liebevollen Erinnerung.
Titel
1. Ständchen
2. Auszug aus: „Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf“
3. Ziehende Landschaft
4. Solveigs Lied
5. Drei Arten Gedichte aufzuschreiben
6. Aus: „Leben als Sprachodyssee“ und „Ich schreibe, weil ich schreibe“
7. Ouvertüre von „Raymond“
8. Auf Wolkenbürgschaft
9. Aus: „Randbemerkungen zur Rückkehr“
10. Mit leichtem Gepäck
11. Hine ma tov
12. Warnung
13. Aus: „Meine Wohnungen - Mis moradas“
14. Nur eine Rose als Stütze
15. Aus: „Besuch bei Hermann Hesse“
16. Als die alte Mutter
17. Aus: „Hineingeboren“ Teil 1
18. Ach wie flüchtig ach wie nichtig
19. Aus: „Hineingeboren“ Teil 2
20. Ich grüße dich am Kreuzesstamm
21. Aus: „Hineingeboren“ Teil 3
22. Shalom chaverim
23. Graue Zeiten
24. Vorsichtige Hoffnung
25. Prelude op. 28 Nr. 20
26. Abel steh auf
27. Aus: „Brief an Günter Bruno Fuchs“
28. Wie wenig nütze ich bin
29. Prélude Op. 28 Nr. 15
Informationen
Interpreten: Karen Schneeweiß-Voigt, Katharina Burges
Album: Hilde Domin – Ich ging heim in das Wort
Sprache: Deutsch
VÖ: 22.02.2022
Format: CD Digipack
EAN / LC: XXX / LC24979
Label: Grenzton
Vertrieb: Grenzton
Laufzeit: XX:XX Minuten / 29 Stücke
Herkunft: Deutschland
Genre: Spoken Word / Music /
Kaufmöglichkeiten
physisch: direkt bei grenzton
digital: bandcamp
Trailer
Pressefotos
(das Fotos ist in druckfähiger Auflösung und zur Veröffentlichung für Medienzwecke freigegeben)
zum Download (Credit: André Wlodarski | Promo Grenzton)
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Kulturscheune Netzen
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Hilde Domin - Ich ging heim in das Wort